Beitrag des Vorstandsvorsitzenden der ОАО Gazprom, Alexey Miller, auf der Konferenz „Energiesektor Europas: zukünftige Struktur und Stellung auf dem Weltmarkt“

Belgrad

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte alle Konferenzteilnehmer begrüßen und Ihnen fruchtbringende Arbeit wünschen.

Gleich am Anfang will ich sagen, dass wir gute Nachrichten haben. Die Gaslieferungen nach Europa, die Gaslieferungen der Gazprom 2015 zeigen eine positive Dynamik gegenüber den Vergleichsperioden von 2014. Wir beobachteten diese Tendenz im April, und im Mai setzte sich diese Tendenz fort.

Ein Fakt von 2015: Die Lieferungen im Mai wiesen gegenüber der Vergleichszeitspanne des Vorjahres ein Plus von mehr als fünf Prozent auf. Das bedeutet, dass wir eine Zunahme der Jahreslieferungen von russischem Gas nach der Europäischen Union in größerem Umfang als im Vorjahr prognostizieren. Am wichtigsten ist aber auch, dass der Anteil von unserem Gazprom-Gas auf dem Gasmarkt in Europa gleichfalls zunehmen wird. Sie wissen aber, dass wir 2014 ein sehr gutes Resultat erzielten, wir kamen auf einen Marktanteil von 30 Prozent.

Diese steigende Wachstumstendenz unseres Anteils ist dabei seit bereits drei Jahren zu beobachten. Und ich kann mit absoluter Gewissheit sagen, dass wir aufgrund der Ergebnisse von 2015, aufgrund der Ergebnisse unserer Arbeit unseren Anteil am Gasmarkt der Europäischen Union vergrößern werden. 30 Prozent ist eine hohe Zahl, doch eine noch höhere Zahl ist der Anteil russischer Gaslieferungen am Importvolumen der Europäischen Union. Gegenwärtig kommen wir auf zwei Drittel des Importvolumens, und das ist, wie Sie wissen, sehr, sehr viel. Sie wissen dabei, die zwei Drittel – das ist nicht nur der Import von russischem Gas im Gesamtvolumen der Importe, die zwei Drittel sind auch der Importanteil am Gesamtverbrauch von Gas in der Europäischen Union. Dabei können wir vollkommen sicher behaupten, dass der Anteil von Importlieferungen auf den europäischen Markt nur zunehmen wird.

Wenn wir 15 Jahre zurück, in das Jahr 2000 blicken, und die Mengen der Importlieferungen auf den europäischen Markt vergleichen, werden wir sehen, dass der Importanteil binnen 15 Jahre um 17 Prozent zunahm. Wir können nun mit voller Gewissheit annehmen, dass der Anteil der Importe in den nächsten 15 Jahren, bis 2030 um eine in etwa ähnliche Größe zunehmen wird. Und da stellt sich in der Tat die Frage, aus welchen Quellen und in welchen Mengen der europäische Markt Gas beziehen wird.

Wenn es um Faktoren geht, die den europäischen Gasmarkt beeinflussen, sollte sicherlich zunächst einmal der wichtigste Faktor hervorgehoben werden. Dies ist der Faktor der sinkenden Gasförderung in Europa selbst. Diese Tendenz setzte nicht erst gestern ein. Einige Länder, die erst vor kurzem noch in Europa als Netto-Exporteure auftraten, sind seit bereits mehreren Jahren Netto-Importeure. Wo wir nun diese 15jährige Periode – bis 2030 – gewählt haben, wird Gazprom-Schätzungen zufolge die eigene Gasförderung in Europa um 80 Milliarden Kubikmeter zurückgehen. Und zwar parallel zu einer anderen Tendenz – dem Rückgang der Lieferungen von Pipelinegas in absoluten Zahlen aus anderen traditionellen Lieferländern, die gegenwärtig Pipelinegas nach Europa liefern. Deswegen wird während der nächsten 15 Jahre der Faktor sinkender Gasförderung in Europa den Ausschlag geben.

Zweifellos setzte europäischer Markt vor einiger Zeit auf LNG große Hoffnungen. Wir alle wissen aber, dass Europa die Schlacht ums LNG verloren hat, und diese Tendenz, ich kann sagen, diese sehr klar ausgeprägte Tendenz ist an den Zahlen für die letzten fünf Jahre sehr gut erkennbar.

2010 machte der LNG-Anteil am Gesamtverbrauch in Europa 30 Prozent aus. Während der letzten fünf Jahre ist er um 12 Prozent zurückgegangen, sodass der LNG-Anteil lediglich 18 Prozent ausmacht. Wenn wir auf die Rolle Europas auf dem Weltmarkt für LNG schauen, sehen wir gleichfalls, dass dieser Anteil in diesen fünf Jahren von 30 Prozent – das war Europas Anteil 2010 – aktuell auf 14 Prozent gesunken ist. Was lässt sich daraus schließen? Es kann nur den einen Schluss geben, nämlich, dass LNG als Entwicklungsfaktor des Gasmarktes in Europa in den nächsten Jahrzehnten keinerlei relevante Rolle spielen wird.

Dies ist in Wirklichkeit nicht nur eine Frage der Preise, dies ist auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit von russischem Gas. Was nun die Attraktivität des europäischen Marktes für LNG-Lieferanten betrifft, so sehen wir, dass keiner von den Hauptlieferanten momentan den europäischen Markt in seinen Ratings über Platz drei einstuft. Dies gilt jetzt übrigens auch für den Iran, der bereits erklärt hat, seine Priorität werde in nächster Perspektive die Erzeugung von LNG und dessen Lieferung nach Ostasien sein. Was unser russisches Pipelinegas angeht, so kennen wir alle sehr wohl die Abhängigkeit der Größe der Marktlieferungen von der Entfernung zwischen den Förderfelder und dem Markt.

In der aktuellen Konjunktur, in der laufenden Zeitspanne und in mittellangfristiger Perspektive gibt es für uns bei einem europäischen Bedarf an russischem Gas von jährlich 120 Milliarden Kubikmetern und mehr keine Konkurrenten bei LNG-Lieferungen über Entfernungen bis 10.000 Kilometer vom europäischen Markt. Deswegen ist und bleibt unser russisches Gas wettbewerbsfähig für den europäischen Markt in sehr, sehr weiter Perspektive.

Wir prognostizieren ganz sicherlich, dass das absolute Volumen des Gasverbrauchs in Europa in den nächsten 15 Jahren wachsen wird. Wir sehen jedenfalls in der laufenden Zeitspanne, also schon jetzt, sehr gute Aussichten für Energieerzeugung mit Gas. Unseren Schätzungen zufolge kann sich der Gasverbrauch bei der Energieerzeugung unter Einsatz von Gas in Europa bis 2030 um 12 Prozent vergrößern. Wir sind der Auffassung, dass die Rolle von Kohle auf dem europäischen Energiemarkt in allernächster Zeit neubewertet werden wird. Entscheidungen dieser Art liegen gar nicht mehr fern.

Was nun die Fragen darüber anbetrifft, welche Perspektiven sich in diesem Zusammenhang für russisches Gas ergeben, so will ich sagen, dass, falls der Markt der Europäischen Union in absoluten Zahlen, nehmen wir an, binnen 15 Jahre absinkt oder auf dem bisherigen Niveau bleibt, also Null-Wachstum aufweist, oder wenn er in absoluten Zahlen wächst, wird sich für russisches Gas aus der Sicht der Wachstumstendenz der Liefermengen in absolutem Ausdruck wie auch der Vergrößerung des Anteils von russischem Gas am europäischen Markt nichts ändern.

Ob der absolute Gasverbrauch in Europa sinkt, ob sich der Markt etwas verringert – unsere russischen Lieferungen werden in absolutem Ausdruck nur zunehmen und deren Anteil wird auch nur steigen. Deswegen ist es, unabhängig davon, was mit dem europäischen Markt passiert, wie dort die absoluten Werte ausfallen, vollkommen klar, dass zusätzliche Mengen, zusätzliche russische Gaslieferungen erforderlich sein werden.

Alle wissen nun, dass es in den traditionellen Lieferländern, die als Produzenten, als Länder agieren, die in Europa Gas gewinnen, buchstäblich im Verlaufe des letzten Jahres zu wesentlichen Veränderungen eben in Richtung Verringerung aktueller Mengen hin und erst recht mit Blick auf weitere Perspektiven gekommen ist. Deswegen wird der Markt zweifelsohne russisches Gas benötigen.

Wenn wir indes das Jahr 2030 unter dem Gesichtspunkt betrachten, inwieweit die Nachfrage im Verhältnis zum aktuellen Verbrauchsniveau in Europa vertraglich gebunden ist, werden wir sehen, dass durch langfristige Verträge, dass insgesamt vom laufenden Verbrauchsniveau, lediglich 30 Prozent gebunden sind. Das ist, wie Sie wissen, eine sehr niedrige Größe, woraus wir schließen können, dass die Frage der vertraglichen Bindung, der Bindung auf der Basis mittel- und langfristiger Verträge für den europäischen Markt in der gegenwärtigen Zeitspanne eine aktuelle Frage, eine absolute Arbeitsfrage ist, eine Frage, die vollkommen aktuell ist. Zumal 15 Jahre eine geringere Zeitperiode ist als die Dauer unserer traditionellen langfristigen Verträge über 20 bis 30 Jahre.

Schauen wir uns nun an, was und wie mit den Gastransportkapazitäten in der Europäischen Union geschieht. Nun, erstens will ich sagen, dass der Aufbau von Wiedervergasungskapazitäten für LNG sehr anschaulich zeigt, wie genau die Prognosen waren, welche Investitionsentscheidungen aus der Sicht ihrer Qualität getroffen wurden, da ja 75 Prozent der Wiedervergasungskapazitäten in der Europäischen Union momentan stillstehen. Sie sind schlicht und einfach nicht gefragt. Es gibt Fragen.

Solche Fragen gibt es aber auch in Bezug auf Projekte im Bereich von Pipelinegas. Momentan kommen neue Projekte hinzu. Unter anderem gibt es ein solches Projekt, das Sie gut kennen – es ist das Projekt Eastring. Es ist ein sehr interessantes Projekt, ein Projekt, das mit seinen Kapazitäten auf Dutzende Milliarden Dollar hinausläuft. Aber für dieses Projekt existiert momentan keine Projektstudie, es ist ein Projekt mit unklaren Teilnehmern. Andererseits gibt es aber schon Versuche, dieses Projekt auf irgendwelche Prioritätenlisten von Infrastrukturprojekten zu setzen. Indes haben potentielle Teilnehmer dieses Projekts unseres Wissens mit niemandem irgendwelche Verhandlungen über Gaslieferungen durch ebendiese Pipeline geführt. Nun stellt sich die Frage: Woher kommt Gas in diese Pipeline? Wir wollen hoffen, dass solche Verhandlungen möglicherweise in der nächsten Zeit stattfinden, doch in jedem Fall ist die Frage, welches Gas und wann in diese Leitung kommen soll, eine sehr, sehr wichtige und relevante Frage.

Die Trans Adriatic Pipeline – die so genannte TAP. In diesem Projekt ist die Situation hinsichtlich der Verfügbarkeit von Ressourcen etwas besser als im Falle von Eastring. Doch wenn wir schauen, wie es um die Fristen der Inbetriebnahme dieser Pipeline bestellt ist, werden wir sehen, dass es vor vier Jahren geheißen hatte, die ersten Gaslieferungen durch die TAP würden 2017 starten. Es sind vier Jahre um, und heute bekommen wir zu hören, die Gaslieferungen durch diese Pipeline würden Anfang 2021 starten. Jedes Jahr wird nun im Verlaufe dieser vier Jahre jeweils ein Jährchen draufgeschlagen. Experten sagen, diese Tendenz, je ein Jährchen draufzuschlagen, könne über gewisse Zeit bestehen bleiben.

In jedem Fall wollen wir aber allen anderen Gastransportprojekten Erfolg wünschen. Diese Projekte sind für die Gazprom keine Konkurrenz, da wir unsere Gastransportprojekte strikt für unsere Objekte planen und bauen, in strikter Kenntnis dessen, in welchen Mengen und auf welche Zielmärkte Gas geliefert werden soll.

Unter Beachtung dessen, was vorstehend angesprochen wurde, und zwar dass der Bedarf an russischem Gas auf dem europäischen Markt während der nächsten 15 Jahre wachsen wird, lässt sich mit absoluter Gewissheit feststellen, dass die Frage nach neuen Gastransportkapazitäten für neue Lieferungen von russischem Gas auf den europäischen Markt aktuell ist und eine Frage der laufenden Agenda der Verhandlungen bildet.

Sicherlich sollten auch ein paar Worte zur Ukraine gesagt werden. Es ist zweifelsohne erfreulich, dass sich der Verbrauch an russischem Gas durch die Ukraine gegen Ende Mai gegenüber dem Volumen vom April mehr als verdreifacht hat. Doch andererseits kann ich sagen, dass solche Mengen des Einkaufs von russischem Gas und solche Mengen der Einspeicherung von Gas in die Untertagespeicher der Ukraine – und Sie wissen, dass die Ukraine bereits damit befasst ist, Gas für die bevorstehende Herbst- und Winterperiode einzuspeichern – dass das Tempo und das Volumen, das momentan da ist, der Ukraine mit absoluter Sicherheit nicht gestatten werden, das notwendige Mindestvolumen für die Versorgung in einem kalten Winter einzuspeichern. Ein solches Volumen, das der Ukraine und den Ländern Europas gestatten würde, zu 100 Prozent risikofrei den Winter zu überstehen. Da gibt es nur die eine Konsequenz: Die Ukraine sollte in allernächster Zeit die Gaseinkäufe vergrößern. Die Einkaufsraten und Einspeicherungsmengen sind momentan unzureichend. Wir wissen, dass die Ukraine für die Versorgung in einem kalten Winter – niemand weiß aber, wie der Winter 2015/2016 sein wird – in den Untergrundspeichern 18 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr benötigt. In dem Tempo, wie jetzt die Einspeicherung vorankommt, und mit den Mengen, in denen Gas eingekauft wird, lässt sich diese Zahl nicht erreichen.

Ende Oktober vergangenen Jahres wurden die dreiseitigen Verhandlungen zwischen Russland, der Ukraine und der Europäischen Union zur Regelung eines Teils der Schulden für russische Gaslieferungen abgeschlossen. Sie wissen, dass diese Verhandlungen sehr konstruktiv und fruchtbringend endeten: Die Ukraine verpflichtete sich, bis Ende 2014 insgesamt 3,1 Milliarden Dollar abzudecken, was sie auch tat. Doch wurde im Rahmen dieser Verhandlungen und Absprachen auch vereinbart, dass die Gazprom ab 1. November im Verlaufe von fünf Monaten von der Ukraine keine „Take of Pay“-Strafen fordern würde. Es gibt aber auch noch die Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 2014. Gemäß Vertrag ist die Gazprom dazu verpflichtet und sie macht der Ukraine gegenüber „Take or Pay“-Sanktionen für 2014 geltend. Diese Summe beziffert sich auf 8,197 Milliarden Dollar. Eine diesbezügliche Vorstellung wird an die NАК Naftogaz of Ukraine heute verschickt werden, eine ebensolche Vorstellung ergeht auch an das Schiedsgericht in Stockholm. Die summarische Verschuldung der Ukraine in Verbindung mit den „Take or Pay“-Strafen für 2014 beläuft sich momentan auf 29,477 Milliarden Dollar, von denen 2,604 Milliarden Dollar auf die Schulden der Ukraine für Lieferungen 2013–2014 plus Verzugszinsen entfallen. 200 Millionen Dollar – dieser runde Betrag hat sich bis dato für Gaslieferungen der Gazprom nach dem Südosten der Ukraine gemäß geltendem Vertrag angesammelt, die die NАК Naftogaz of Ukraine uns nicht bezahlt. Der gesamte restliche Betrag sind „Take or Pay“-Strafen für 2012–2014.

Als Bilanz meines Beitrags will ich nochmals feststellen, dass die absoluten Mengen russischer Gaslieferungen auf den europäischen Markt zunehmen werden, der Anteil von russischem Gas am europäischen Markt zunehmen wird, dass der Bedarf an neuen Gastransportkapazitäten für russische Gаslieferungen da ist und Verhandlungen zu diesen Fragen geführt werden sollten, und wir führen solche Verhandlungen und sind zu entsprechenden konstruktiven Vereinbarungen bereit. Wenn wir aber bewerten, was der europäische Gasmarkt momentan darstellt, so ist dies ein Lieferantenmarkt, auf dem keine Lieferanten Schlange stehen müssen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.